Jo su wor dat von Günther Faber, ergänzt von Winfried Himmerich
Wir haben in Herschbach den größten Kirmesbaum weit und breit. Sicherlich verschieben sich aus der Sicht eines Kindes die Dimensionen, alles scheint riesig, aber es war wirklich so. Man konnte ihn schon von weitem sehen. Wenn man sich unserem Ort näherte, konnte man die hell erleuchtete Krone schon aus der Ferne erkennen und man wusste, „en Herschbich werd Kärmes gefejert“. Im Frühsommer bereits wurde im Wald eine mächtige Fichte geschlagen. Zu Beginn des Oberherschbacher Weges lag sie dann zum Trocknen. Oft genug sind wir Kinder auf ihm herumbalanciert oder am oberen Ende hin und her gewippt. Auch die Sonntagshose wurde gelegentlich in Mitleidenschaft gezogen, wenn wir unseren Pflichtspaziergang zum Friedhof machten. Einmal auf dem Kirmesbaum hoch und am Rückweg noch einmal runter. So war er uns schon vor der Kirmes vertraut. In der Allee liegend wurde er von der Kirmesjugend, in der Regel gleichen Jahrgangs, von allen Ästen befreit und geschält, so dass er blitzblank und ganz hell und glatt war. Heute machen das wohl Vereine. Für die Kirmes ließen sich die Kirmesmädchen extra bunte Kleider im Ort nähen oder nähten, je nach Geschicklichkeit, diese selbst. Das Hauptspektakel war an Kirmes-Samstag. Der geschmückte Baum wurde am Oberherschbacher Weg aufgeladen und bis 1962 in einem Festzug mit Musikverein und Kirmesjugend durch „dat Oort“ zum Holzbach gefahren. Dort wurde er quer über die Straßenkreuzung neben den „Buur“ bis hin zu „Bisjes“ (Büsgen) abgelegt. Nun galt es ihn aufzurichten. Für uns Kinder war das das Aufregendste überhaupt. Der Baum wurde mit Holzsteipen (Stützen), drei unterschiedlicher Länge waren immer notwendig, und seitlich mit Seilen abgesichert und “Hau ruck“ von der Herschbacher Männerwelt aufgestellt. Ab einer bestimmten Höhe konnte der Stamm durch die Stützen nicht mehr gehalten werden. Die Spannung stieg merklich, denn jetzt musste er durch den Zug der Seile in Balance und in den endgültigen Stand gezogen werden. Mit einem Vorschlaghammer wurde er unten in die ausgehobene Grube eingepasst. Wenn die Lichter der Krone brannten, ging ein „Ah“ und ein “Oh“ durch die Runde. Die Musik intonierte einen Tusch, Pfarrer und Bürgermeister hielten eine Rede. Dann wurde zum Tanz aufgespielt. “Em Baach“, ganz in der Nähe von “Deckaps“, stand er dann wochenlang, der größte Kirmesbaum im Westerwald. Vielleicht hielt er sich auch so gut, weil er im Wasser stand.
Ich glaube, Deckaps Franz schwankte beim Aufstellen wie auch beim Niederlegen mit seinen Gefühlen ebenso wie der Baum, stand bestimmt jedes Mal Ängste aus, zog auffallend oft nervös an seiner Zigarette. Eines Kirmessamstags passierte es doch. War der Baum zu schwer gewesen oder hatten die Herschbacher bereits zu viel getrunken? Ich kann mir es aber nicht vorstellen, dass ganz Herschbach bei aller Feierlaune schon bereits am frühen Abend berauscht war. Bei aller Anstrengung gab es an der Seite zu Deckaps hin kein Halten mehr. Alles Stemmen und Ziehen hatte keinen Erfolg. Ganz allmählich und dann immer schneller neigte sich unser widerspenstiger Kirmesbaum, landete auf Deckaps-Franz seinem Himmelreich, genauer gesagt auf seinem Dach, und zog die verdutzte Männerschar hinter sich her. Das, was Franz schon immer insgeheim befürchtet hatte, war nun eingetreten. Der Segen über dem Himmelreich hing zunächst einmal schief und jedes Stoßgebet zum heiligen Laurentius, dem Schutzpatron Herschbachs, kam zu spät. Die schöne mächtige Krone hatte den Sturz überlebt, hing zwar etwas schief, ragte aber weit über dem Franz seinem Giebel und schaute wohl verdutzt in Richtung Regert (Rückeroth). Hätten die Regerter das Schauspiel mitbekommen, wäre ihnen eine gewisse Schadenfreude nicht zu verdenken gewesen. Möglicherweise hatten sie einen Beobachter in Herschbach, denn in der Gegend wusste man: En Herschbich es dä Kermesbomm emgefallen, off at Dach von Deckaps Franz. Wenn auch, einen solchen mächtigen Baum hatten sie nie aufzuweisen, nicht die Regerter und auch nicht die anderen um uns herum. Das gab es nur bei uns. Aber nun lag er da, der aufmüpfige Baum, auf Deckaps Franz seinem Dach, hatte den Herschbachern zunächst einmal gezeigt, wer der Stärkere ist. Für ein paar Sekunden verhallte der Aufschrei in einer merkwürdigen Stille, so als wäre die Kirmes plötzlich vorbei. Nur aus der Ferne hörte man vom Kirmesplatz dezent die Geräuschkulisse der Schausteller. Einige Ziegel waren heruntergekommen, aber einen größeren Schaden hatte es nicht gegeben. Trotzdem war die Aufregung groß und ein erneuter, größerer Kraftakt war notwendig um den Baum wieder aufzurichten. Jetzt erst recht. Diesmal hatte er den Kampf verloren. Mit einem eisernen Ring umklammert, mit Holzkeilen und Querbalken eingeklemmt, stand er da und zeigte in den Himmel. Nun schlug die Stunde des Elektrikers. (Oft Willi Morgenschweis) Mit Steigeisen an den Schuhen und einem Riemen um Hüfte und Baum stieg er hoch, um die Verbindung zur Krone herzustellen und um die Seile loszubinden. Mit einem deutlichen Knirschen hakten sich die Eisenspitzen in den Baum und hinterließen sichtbare Löcher. Auch das noch, als hätte unser Kirmesbaum nicht schon genug mitgemacht. Doch dessen ungeachtet kletterte der mutige Mann, sich seines Applauses schon gewiss, geschickt nach oben, immer höher und höher. Alle reckten ehrfurchtsvoll ihre Köpfe nach ihm. So viel Publikum hat man nicht alle Tage. Und wann ist man schon einmal so wichtig? Es muss ein Hochgefühl in ihm gewesen sein, vor allem, als die Krone mit ihren bunten Birnen aufleuchtete und ein erleichtert heiteres Raunen und Klatschen durch das verehret Publikum ging. Und dann noch einmal mit seinen Haken an den Füßen den Baum herunter, Schritt für Schritt, tief in sein Fleisch. Der arme Baum: Gefällt, geschält, glatt gerieben, durch den Ort gezerrt, aufgestellt, auf Deckaps Haus gefallen, wieder aufgestellt, eingezwängt und zuletzt noch einmal zerkratzt. Und das Alles zu unserer Freude. Ob die Steiger an den Füßen des Elektrikers halten, dachte ich mir. Wenn der nun auch noch hinunterfällt, dann fällt unsere Kirmes endgültig aus. Zwei Katastrophen an einem Tag, das wäre zu viel gewesen.
Nach dem Krieg fand das Kirmesgeschehen auch ein oder zweimal auf dem Marktplatz statt. Hier standen eine Schiffschaukel und zumindest einmal ein Riesenrad. Wegen des Verkehrs stellte der Jahrgang 1943 den Kirmesbaum, manche sagen den Fingerzeig Gottes, erstmalig am Festplatz auf. In “Fronarbeit“ schaufelten sie mit Hand die Grube aus, betonierten und befestigten Eisenringe. Erstmals wurde dann auch wegen des Kirmesparks auf dem Platz der Baum bereits Donnerstagsabends aufgestellt. Eine Seilwinde eines Traktors aus Maroth zog ihn hoch. Am Samstagabend wurde unter ihm die Kirmes eröffnet. Pfarrer und Bürgermeister begrüßten die Gäste, die Ortsvereine brachten ein Ständchen und nicht nur die Kirmesjugend tanzte unter dem Kirmesbaum. Am Baum hing ein gläsernes Emblem des Schutzpatrons von Herschbach, dem heiligen Laurentius. In Wirtgens Saal nebenan trafen sich dann Jung und Alt zum Kirmestanz. Der Musikverein spielte auf. Ganz Herschbach war auf den Beinen. Vorher hatte der Kirmesjunge seinem Mädchen schon einige Rosen an der Schießbude geschossen. Und am “Lukas“ hatten die stärksten Herschbacher gezeigt, wie hoch sie den pfeifenden Stern mit dem Vorschlaghammer nach oben droschen. Der Stärkste schaffte es bis zu einem Knall. Der Kirchgang am Sonntagmorgen war Pflicht eines jeden Kirmesjungen. Brummte auch noch der Kopf, hatte man auch noch kein Bett gesehen. Eine Verlosung eröffnete am Montagmorgen den „längsten Tag des Jahres“. Von Geschäftsleuten gespendete Preise erfreuten so manchen Kirmesbesucher. Montagsnachmittags zog der berüchtigte Kirmesumzug durch das Dorf. Besucht wurden Arzt, Apotheker, Bürgermeister und weitere honorige Leute. Spielmannzug und Musikverein begleiteten die Kirmesjugend. Jeder Kirmesjunge hatte natürlich sein Kirmesmädchen im Arm. “Wemm geheert die Kärmes“?, war laut tönend die Frage. “Oos“, war genau so laut die Antwort. Auf dem Autoskooter gab es für die Kirmesjugend eine Freirunde. Der letzte Akt der Kirmes war nach einigen Wochen das Umlegen des Baumes. Die Gemeinde schenkte der Kirmesjugend den Baum und diese konnte ihn an einen Sägewerksbetrieb verkaufen. Der Jahrgang 1943 fuhr ihn nach Hartenfels. Dieser Akt wurde noch einmal begossen und das Kirchweihfest endgültig beendet.
Die Tatsache, warum das Herschbacher Kirchweihfest am 2. Sonntag im August gefeiert wird, führt immer wieder zu Diskussionen. Die Wahrheit ist: Am 9. August 1767 wurde die Einsegnung (Benediction) des Gotteshauses von Pfarrer Wiedenhofer vorgenommen. An diesem Tag fand auch der erste Gottesdienst in der neuen Kirche statt. Dieser Termin ist auch ausschlaggebend für den heutigen Kirmestermin. Die eigentliche Weihe, die Konsekration, vollzog am 23. Juli 1775 Kurfürst Clemens Wenzeslaus. Seit über 25 Jahren steht der Kirmesbaum nun beim und ein großes Zelt auf dem Marktplatz. Zum 250ten Geburtstag unseres Gotteshauses fasste Pfarrer Stephan Neis im Festgottesdienst Ursprung und Sinn des Kirchweihfestes in Versform zusammen. Auszug: „Kirchweih und Kirmes sind Tradition, gehören zum Dorf zum guten Ton. Sie zu bewahren und nicht zu zerstören sollte zum religiösen Erbe gehören. Nur wird im ganzen Alltagstrott oft vergessen der liebe Gott. Ich hoffe sehr für Jung und Alt, dass hier im schönen Westerwald, Religion und auch das Beten gehen hoffentlich niemals flöten. Es gibt ein Wort, das gilt für alle: Man soll die Feste feiern wie sie fallen. Drum heilige Anna schau hernieder, deine Schäfchen feiern wieder. Sie mögen nie dabei vergessen, was des Feierns Ursprung ist gewesen. Und so will ich hier noch zum Schluss, dem Gotteshaus gratulieren voll Genuss. Denn es hat heut in dieser Reihe, den großen Tag seiner Weihe. Amen.“