Es ist nie Gespräch im Ort gewesen, weder stand es in der Zeitung, noch wird es jemals in die Geschichtsbücher eingehen. Und doch hat es sich so zugetragen, das „Scharmützel in der Riedwiss“.
Am Rande der Riedwiss (Reetwiese), unweit des Bahndammes zur Bleichstraße hin, gab es ein kleines Plateau. Es lag etwas höher und war deshalb nicht sumpfig und trocken. Es hatte einen Durchmesser von zirka 30 bis 40 Meter und war ringsum mit Sträuchern und Bäumen bewachsen. Ideal für einen Lagerplatz der ständig unter Waffen stehenden, “umhermarodierenden“ Banden. Die einen waren vom Oberdorf, wir anderen aus dem Unterdorf. In Erinnerung geblieben aus dem Oberdorf sind mir: Günter Krah, Günter und Horst Veith, Heinz Adolf, Peter Himmerich und Dieter Dickopf. Aus dem Unterdorf standen ihnen gegenüber: Karlheinz Faber, Willibald Eberz, Lothar Simon, Klaus Schenkelberg, Klaus und Rolf Hörle, Erwin Koch, Peter und Günter Kefferpütz, Helmut Schenkelberg, Gerd-Peter Grebe, Hans Josef Krah und der Kleinste von Allen: Günther Faber. Aus dem Unterdorf kann ich nur deshalb mehr aufzählen, weil diese zu meiner Rotte gehörten. Aus dem Oberdorf waren sicherlich mehr “Gegner“ auf dem Kampfgebiet als ich hier aufzählen kann. Beide Truppen waren schwer bewaffnet mit Schwertern, Pfeil und Bogen, Lanzen, Schilde, Steinschleudern und anderen wichtigen Dingen zum Überleben während eines Kampfes. Jeder hatte natürlich auch einen Stahlhelm, Überbleibsel vom Krieg. Manche hatte sogar einen Helm eines amerikanischen Soldaten. Die waren formschöner und leichter und daher sehr begehrt. So ein Helm war schon etwas Besonders und der Träger war stolz darauf. Ständig standen die Gruppen in Konkurrenz zueinander. Das Lager des anderen zu erobern oder gar zu zerstören war oberstes Ziel. Vielleicht war es der Mythos von Wildwestfilmen, von Prinz Eisenherz oder Sigurd, der uns zu solch kriegerischen Handeln antrieb. Damals, es muss in den frühen Sechzigern gewesen sein, war ich noch ein Pimpf und durfte bei den Unterdörflern bei meinem älteren Bruder Karlheinz mit dabei sein oder wurde zumindest geduldet. Wir hatten uns in der Riedwiss eingerichtet, auf dem Plateau einen Verschlag gebaut, eine Feuerstelle hergerichtet und ringsum uns mit Bäumen, Balken, Bretter und Pfosten verschanzt, wie eine Festung. Weder ein Amt, noch die Gemeinde scherte sich darum. Das durften wir alles machen, jedenfalls, wenn wir es nicht übertrieben. Vielleicht waren sie auch froh, dass wir während unserer “Kriege“ sonst keinen Flurschaden anrichteten. Von rückwärts waren wir gut abgesichert durch das Sumpfgebiet. Von vorne gab es nur einen trockenen Zugang. Strategisch gesehen schien das zunächst einmal gut zu sein. Wie es sich aber später herausstellte, war es unsere größte Schwachstelle.
Den Spähern vom Oberdorf blieben die Aktivitäten natürlich nicht verborgen. Bereits nach wenigen Tagen kündigte man uns an, unser Lager zu stürmen. Ich spreche von uns, so sehr fühlte ich mich zugehörig, obwohl ich als Jüngster, als Mitläufer, nichts zu melden hatte und mein Bruder Karlheinz wie auch die anderen mich nur widerwillig mitmachen ließen. Auf die Ankündigung hin wurde die äußere Absicherung verstärkt, die Anzahl der Waffen erhöht und jede Menge Steine, auch Schottersteine vom dem naheliegenden Kleinbahnbahndamm, herangeschleppt. Doch es musste eine schlagkräftige Waffe herbei, um die Angreifer auf Distanz zu halten. Wir, die Unterdörfler, waren uns schnell einig. Aus Astgabeln wurden zwei überdimensionierte Schleudern gebaut und in den Boden gerammt. Als Gummizug dienten alte Fahrradschläuche. Damit gelang es uns, die Schottersteine bis zum Bahndamm zu schießen. Wir waren uns sicher, damit würden wir sie, die Oberdörfler, in die Flucht schlagen. Dann war es soweit. Am angekündigten Nachmittag lagen wir auf der Lauer. Die Angreifer konnten nur von einer Seite, vom Bahndamm her, kommen. An diesem Nachmittag war der Himmel strahlend blau, die Sonne brannte unerbittlich, die Luft war heiß und stand über dem Kampfgebiet, der Riedwiese. Gespenstige Ruhe herrschte. Alle lagen in Deckung. Ich konnte mein Herz klopfen hören. Immer wieder schob ich den schweren, für meinen Kopf viel zu großen Stahlhelm in den Nacken und lugte über die Deckung. Der Schweiß lief mir in den Nacken und dem Rücken herunter. Lästige Stechmücken schwirrten um mich herum und versuchten, sich an meinem Schweiß zu laben. Ansonsten war totenstille, selbst die Vögel sangen nicht. Plötzlich, wie aus dem Nichts, jagten mit einem scharfen, beißenden, überlauten Getöse zwei Flugzeuge der Luftwaffe im Tiefflug über unsere Köpfe hinweg, so dass ich vor Schreck erstarrte. Tief drückte ich meine Nase ins Gras. Als ich vorsichtig meinen Kopf wieder hob, stiegen die Flieger bereits auf, trennten sich bogenförmig, der eine nach links und der andere nach rechts, wurden immer leiser und leiser und verschwanden schließlich im stahlblauen Sommerhimmel als zwei kleine Punkte. So plötzlich, wie sie gekommen waren, waren sie auch schon wieder verschwunden. Und nun wieder gespenstige Stille. Nur die lästigen Mücken schwirrten immer noch unermüdlich um meinen Kopf. Was hatte das zu bedeuten? War es ein gutes oder schlechtes Omen? Gehörten die Flugzeuge zu uns oder zu den anderen, fuhr es mir durch den Kopf? Sicherlich zu uns! Es sollte bestimmt eine Warnung sein, da war ich mir sicher. Als ich langsam wieder zur Besinnung kam, verschwand auch die Gänsehaut auf meinen Unterarmen. Und plötzlich, als wäre es abgesprochen, kamen die Oberdörfler aus der Unterführung des Mühlenbaches am Bahndamm hervor. Gehörten die Flieger doch zu denen? Erst kam einer, dann der nächste, und dann in einer nicht endenden Reihe einer nach dem anderen, ebenso schwer bewaffnet wie wir. Mit einer solchen Übermacht hatten wir nicht gerechnet. Wo hatten sie nur alle Kämpfer aufgetrieben? Die müssen ja sehr beliebt sein im Oberdorf, ging es mir sekundenschnell durch den Kopf. Als die Gegner sich vor uns formierten, stieg die Spannung weiter in mir. Völlig gegensätzlich dazu verhielt sich mein Darm. Komischerweise schien er sich zu entspannen und ich spürte den unbedingten Drang ihn zu entleeren, was aber in diesem Moment ungünstig war, genauer gesagt nicht ging. Was hätte ich dafür gegeben, jetzt auf Opas Abtritt (Plumsklo) zu sitzen und meinem dringendem Bedürfnisse freien Lauf lassen zu können, den permanent aufsteigenden Duft geduldig zu ertragen, das warme Holz des Sitzes an meinen Oberschenkeln zu spüren. Ich spürte den Drang und Druck, meinem Bedürfnis nachzugeben, was ich aber nur durch die konsequente Anspannung der Gesäßmuskeln verhindern konnten – auf dem Lokus das längst Vergangene auf fein säuberlich zugeschnittenen Zeitungsschnipseln zum Abputzen nachzulesen, zum x-ten Mal die fantastische Landschaft der Holzmaserung der Tür zu studieren oder einfach draußen den Hof durch die Ritzen der Tür beobachten zu können. Ich hätte offiziell und gerne meine Hose bis zu den Schuhen heruntergelassen, meine Ellenbogen auf den Knien abgestützt, auch wenn das wieder einmal rote Druckstellen gegeben hätte, egal. Ich hätte dabei vielleicht meinen Kopf gelassen in die Hände gelegt und wäre beim Nachdenken wie so oft beinahe eingeschlafen. Ach, wäre das schön gewesen. Aber es ging nicht. Und ein Feigling wollte ich nicht sein. Aber wo sollte ich hin. Und dann noch den Feind vor den Augen. Es war wirklich der denkbar ungünstigste Moment und deshalb kniff ich die Backen abermals zusammen, - was mir aber nur teilweise gelang. Nun gab es kein zurück mehr. Auf ein Kommando hin kamen die Obergässler mit Gebrüll auf uns zu gerannt, wild gestikulierend und mit zusammengekniffenen Augen. Sie sahen wahrlich gefährlich aus. Gleichzeitig sprangen wir aus der Deckung und begannen zu schießen und zu werfen was unsere Kriegsmaschinerie Geräte hergab. Zwei Mann bedienten die beiden großen Schleudern. Ich kam fast nicht nach, die notwendigen Steine heranzuschaffen. Gott sei Dank hatte ich einen alten Helm auf, denn auf uns prasselten Steine, Stöcke und Pfeile herunter. Aber auch unsere Superwaffe, die großen Steinschleudern, zeigten Wirkung. Das Vorrücken des Feindes wurde langsamer, kam zum Stehen, und legte den Rückwärtsgang ein. Wir hatten sie in die Flucht geschlagen. Aber zu früh gefreut! Noch in unserem Siegestaumel starteten sie einen zweiten Angriff und kamen diesmal näher heran. Als sie sich dann aber wegen unserer Gegenwehr wieder zurückzogen, versagte eine unserer Schleudern. Der Fahrradschlauch war gerissen. Hatten wir sie nun endlich in die Flucht geschlagen oder nicht, dachte ich bei mir? Weit gefehlt. Auch die Obergässler waren Herschbacher und voller Tatendrang. Vielleicht war es aber auch nur eine hinterhältige Taktik. Vielleicht ahnten sie, dass wir unsere Munition fast verschossen hatten und wollten uns aushungern. Wir konnten ihnen nur noch wenig bis nichts entgegensetzen, zumal sie auch körperlich in der Übermacht waren. Wir konnten unsere Reihen nicht mehr halten und wurden überrannt. “Herschbich werf Schanzen“, dieser in Herschbach früher oft gebrauchte Befehl wenn es gefährlich wurde, half nicht mehr. Gerade noch bekam ich einen Stock über die “Rübe“ gehauen, der aber auf meinem Helm seine Wirkung verfehlte, als mich mein Bruder wegzog und wir die Flucht ergriffen. Er hatte unsere brenzlige Lage erkannt. Wo war den der sonst immer präsente Flurschütz geblieben? Heute, wo es galt, war er nicht da! Er hätte aber auch nicht viel ausrichten können. Als wir zu hause ankamen, hatte ich nicht nur nasse Füße. Irgendwie klebte es verdächtig an meinem Hosenboden. Noch größere Schäden waren aber nicht zu beklagen. So war der Kampf in der Riedwiss noch einmal glimpflich ausgegangen. Kein Erwachsener hatte so richtig Notiz davon genommen. Die Ober- und Untergässler vertrugen sich nach ein paar Tagen wieder. Heute kann man sich nur noch an die “schöne alte Zeit“ schmunzelnd an das Scharmützel in der Riedwiss erinnern.